Gesellschaft und Transformation
Die Kehrseite der Empathie
Wer verändert eigentlich die Welt, wenn wir nur noch um unsere Empfindlichkeit kreisen?
Ein Abendessen mit lieben Menschen endete erst kürzlich mit einer Art Meinungsstreicheleinheit unter der Headline…
Und wenn man dann doch vom Mut getrieben etwas sagt, dann vorsichtig. Bitte, meine ich natürlich. Denn wenn man sich in sein Gegenüber hineinversetzt, seine Worte einfühlsam wählt, verletzt man niemanden.
Meinungsstreicheleinheit trifft es also ganz gut, denn der Begriff Diskussion würde diese abendliche, handzahme Unterhaltung unberechtigterweise dramatisieren.
An einem anderen Abend: Angst vor der Reaktion der Tischnachbarn treibt einer von uns am Spieleabend beim Satzbau eine angestrengte Röte ins Gesicht. Sie versucht diskriminierungsfrei zu formulieren, dass jede sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identifizierung für sie okay sind – benutzt dabei das Wörtchen „normal“ und zündet damit den Konfliktknaller. Ihre Erklärungsversuche starten mit einer bunten Wiedergutmach-Palette à la „Also ich meine“, „Das meine ich nicht böse“, „Ohne jemanden auszuschließen“.
Sind wir ehrlich, über das Wort „normal“ lässt sich streiten.
Doch warum tun wir es in solchen Situationen nicht einfach? Streiten! Warum nehmen wir uns zurück? Versuchen uns möglichst freundlich auszudrücken? Niemandem zu nah zu treten? Warum sagen wir es nicht mit den Worten, die wir beherrschen? Warum lassen wir ein Statement, wie „Heutzutage kann man ja nur noch etwas Falsches sagen“ im Raum stehen?
Weil wir empathisch sind?
Der FAZ Artikel vom 3. September hat uns ins Grübeln gebracht. Autor Justus Bender befasst sich damit, warum wir Deutschen immer empfindsamer werden. Warum wir über abnehmende Ungerechtigkeiten mehr klagen. Warum wir unser Unwohlsein heutzutage lieber beklagend berichten, als durch Aktivismus eine Veränderung der Situation zu bewirken.
In der Soziologie nennen sie es das Tocqueville-Paradoxon, weil der französische Politiker Alexis de Tocqueville schon im 19. Jahrhundert erkannt hat, dass weniger soziale Ungleichheit nur dazu führt, dass mehr über soziale Ungleichheit geklagt wird, weil die verbliebenen Unterschiede stärker auffallen.
Vielleicht, weil wir empathisch sind? Die Fähigkeit sich in andere einzufühlen, wird als Future Skill gehandelt, gilt als Kompetenz für unser Zusammenleben und ist ein Google Lieblingswort mit 33.100.000 Suchergebnissen. Scheint, als würde jede*r danach streben, empathisch zu sein.
Ein empathisches Miteinander erleichtert die Beziehungsarbeit und Kommunikation. Die Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen, Gefühle mitzuerleben und gut zuzuhören, erleichtert uns Zwischenmenschliches im Privaten und Beruflichen. Spätestens seit Schulz von Thun – ein Meister der Kommunikationspsychologie -wissen wir, welche Rolle die Beziehungsebene in unserer Kommunikation spielt.
Der Grad zwischen Einfühlungsvermögen und Sensibilität ist schmal. „Die Philosophin […] beschreibt, dass immer mehr Menschen wie offene Wunden behandelt werden wollen, die man vor Infektionen schützen muss“, schreibt die FAZ. Es ginge darum, „das sensible Selbst“ von Zumutungen fernzuhalten, sagt Flaßpöhler.
Und wie steht es um unsere Sprache? Sie verändert sich und im Artikel heißt es:
Klare Konsequenz: Missverständnisse werden größer.
Zurück zum Spieleabend: Anstatt sich persönlich angegriffen zu fühlen und große Ungerechtigkeit hinter der Aussage einer Freundin zu vermuten, hätte doch eingeordnet werden können, wie streitbar das Wort „normal“ ist, oder?
Was, wenn wir durch übertriebene Empfindsamkeit nicht mehr die Botschaft der anderen hören, sondern nur noch die Worte auf ihr Verträglichkeit prüfen? Was, wenn empfindlich auch unberechenbar bedeutet? Und wir mit dieser künstlich sensiblen Mentalität unsere Unterhaltungen mit individuellen Gefühlen überfrachten?
Sind Diskussionen Zumutungen für unser „sensibles Selbst“?
Die Facetten von Empathie
In der Forschung geht man davon aus, dass sich Empathie ähnlich wie persönliche Intelligenz abhängig von Genen, Erziehung und weiteren Faktoren ausprägt. Manche Menschen haben mehr, manche weniger. Die breite Masse ist im Mittelfeld. Sie kann erlernt werden und unterscheidet sich in emotionale, kognitive und soziale Empathie.
Und, wie wir finden, ein wirklicher spannender Zusammenhang, Einfühlungsvermögen schwindet durch den Einsatz von Technisierung. So wie wir unsere empathischen Fähigkeiten durch gezieltes Training verbessern können, so kann Empathie auch verloren gehen. Social Media ist hier ein gutes Beispiel dafür, dass ohne Rücksicht auf Gefühle oder Gesundheit schriftlich gemobbt wird. Wovon unsere Meinungsstreichelheit am Beginn dieses Artikels – du erinnerst dich sicher – zu wenig hatte, gibt es in den manchmal nicht ganz so sozialen Netzwerken oft viel zu viel: Meinung.
Empathische Konflikte als Katalysator für Transformation
Puuuh. Wir atmen durch, weil wir doch noch auf so etwas wie Meinung gestoßen sind – obwohl weit weg von konstruktiven Debatten, ehrlichen und zugleich rücksichtsvollen Diskursen. Aber daran lässt sich arbeiten, finden wir.
In unseren Projekten sind wir umgeben von Menschen, die etwas bewegen wollen, die ihre Ansichten mit anderen teilen und oft wissen, was Austausch bewirkt. Wir verstehen Empathie als Grundlage unserer Zusammenarbeit mit unseren Kunden. Ergänzt um Mitgefühl und kognitive Perspektivübernahme (Theory of Mind) können Diskussionen gelingen, die uns weiterbringen. Sei es in der Mediation, der Personal- und Organisationsentwicklung oder in komplexen Brennpunktthemen, wie klimaangepasste, gemeinwohlorientierte Stadtplanung, Energie- und Mobilitätswende, nachhaltige Quartiere oder neue Wohnformen.
Für uns ist Empathie keine Lösung. Aber eine grundlegende Eigenschaft, eine Fähigkeit, die Verständigung überhaupt erst ermöglicht. Allerdings will Empathie auch gelernt sein. Bedenkt man, dass es krank machen kann, wenn wir uns zu sehr in den Gefühlswelten von anderen aufhalten – dabei womöglich unsere eigene ignorieren.
Deshalb: Grenzen setzen
Um Grenzen setzen zu können, müssen wir verstehen, was uns daran hindert. Es ist meist die Beziehung, die wir nicht verlieren wollen. Lieber passen wir uns an und sagen ja, wenn wir eigentlich nein sagen sollten. Wir nutzen Methoden der Reflexion, des Psychodramas und Visualisierung, die an die Oberfläche spülen, was uns glauben lässt, dass Grenzen negative Folgen nach sich ziehen. Unsere Haltung spiegelt sich im Zitat von Mahatma Gandhi wieder: Ein „Nein“ aus tiefstem Herzen ist besser und größer als ein „Ja“ mit dem man gefallen oder – noch schlimmer – Ärger vermeiden will. Wir gestalten die Konfrontation von Pro und Contra führen die Emotionen zusammen, zu den Ressourcen und zu Klarheit.
Einfühlungsvermögen ist keine Einbahnstraße. Aus der Autismusforschung stammt das Double-Empathy-Problem, welches erklärt, dass Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Menschen aus dem autistischen Spektrum und neurotypischen Menschen auf Gegenseitigkeit beruhen. Kommunikation, die von der einen Seite Einfühlungsvermögen fordert, ohne selbst Rücksicht zu nehmen, füllt sich stumpf und gescheitert an. So auch, wenn wir von autistischen Menschen mehr Empathie fordern, gleichzeitig aber kein Verständnis für die emotionale und soziale (möglicherweise eingeschränkte) Wahrnehmung unseres Gegenübers haben. Etwas, das für uns alle gilt!
Deshalb: sich selbst reflektieren
Das gerade zu Ende gegangene IBA-Festival empfing einen mit einer gelben Wand: „So wie bisher können wir nicht weitermachen“. Darum geht es in der Gesellschaft und es geht jeden an. Um welche Veränderung geht es im konkreten Projekt, Prozess, in der beruflichen Rolle… – das zu erforschen geht nur mit einer supervisorischen Reflexion. Selbstreflexion ist eine Facette der Empathie. In sozialen Bereichen gehört Reflexion zur Professionalität beruflichen Handelns. Sollte diese Form der Beratung nicht überall möglich werden? Nur wenn wir einen Platz für die Selbstreflexion des eigenen beruflichen Denkens und Handelns haben, tun wir nicht einfach weiter, was wir schon immer getan haben. Denn es wird uns nicht dorthin führen, wo wir eigentlich hinwollen.
Empathie schützt uns nicht vor Konflikten. Das sollte sie auch nicht, denn Diskussionen befruchten. Wir dürfen Respekt und Höflichkeit in Konversationen nicht mit Schweigen oder grenzenlosem Verständnis verwechseln – das wäre eine Vermeidungsstrategie, mit der wir den Wandel nicht vorantreiben. Es braucht kräftige Diskussionen, rege Anteilnahme am weltpolitischen Geschehen und Mut laut zu werden, wenn es etwas gibt, das verändert werden muss.
Deshalb: keine Angst vor Konflikten haben
Als Mediator*innen arbeiten wir mit den Prinzipien und dem Phasenmodell der Mediation. Empathie ist ein Grundpfeiler der strukturierten und zielorientierten Arbeit mit Konflikten. Nur durch den empathischen Perspektivwechsel, können die jeweiligen Auswirkungen des Handelns verstanden werden. Nur wenn das Verstehen möglich wird, entsteht Bereitschaft, über gemeinsame Lösungen nachzudenken.
Zum Weiterlesen und Weiterschauen
Autorinnen: Anne Cavalier, Kristina Oldenburg
Quellen im Text verlinkt.
Titelbild via UNSPLASH von Tina Hartung.
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