Die Soziologie der Zukunftsstädte
Wohnen & Leben: Mit Gemeinwohl, Fürsorge und Resilienz dem soziokulturell-demografischen Wandel begegnen?
Wir stecken längst mitten drin: im demografischen Wandel. Unsere Gesellschaft wird älter, denn die Zahl der älteren Menschen steigt, während die der jüngeren sinkt und durch niedrige Geburtenraten klein zu bleiben scheint.
Im Jahr 1964 sind in der Bundesrepublik Deutschland 1,36 Millionen Kinder geboren worden – die Babyboomer. So viele Geburten wie nie zuvor und seither nie wieder. Damit machen die Boomer, also Geburtengänge der 50er und 60er, dreißig Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus.
30 %, also fast 13 Millionen Menschen, die mit ihrem Eintritt in die Rente in den nächsten 14,15 Jahren eine große Lücke im Arbeitsmarkt aufklaffen lassen.
Eine Dimension, die der Nachwuchs nicht komplett auffangen kann:
Babyboomer (55-65 Jahre)
Gen Z (15-25 Jahre)
Differenz U25 zu Ü55 in %
Quelle: Destatis/JobNinja
Wenn ein Drittel der Bevölkerung schlagartig in Rente geht – Arbeit gegen Privates tauscht, sich zu Hause aufhält …
Wenn so ein großer Teil unserer Gesellschaft nicht nur im Arbeitssystem wegbricht, sondern auch die ohnehin stagnierende Wirtschaft nicht weiter mit ankurbeln kann …
Wenn 13 Millionen Menschen älter werden …
?
Zum Anfassen wird dieses komplexe Thema dann, wenn wir in uns selbst reinhören oder in unser Umfeld schauen, vor welchen Herausforderungen Menschen dieser Altersgruppe stehen.
Freunde bewohnen ein schönes Eigenheim in ihrem Lieblingsstadtteil in Frankfurt am Main. Durch Treppen, fehlende Parkplätze, Bordsteinkanten vor dem Haus ist es jedoch nicht barrierefrei, sodass sie heute mit Mitte Fünfzig bereits drüber nachdenken „Was dann?“.
Wenn ihr Haus für sie zu groß wird, nicht mehr komfortabel bewohnbar ist, weil womöglich irgendwann körperliche Beschwerden auftauchen oder Einschränkungen, die nicht mit der Architektur ihres Eigentums vereinbar sind. Jeder Umbau kostet viel Geld. Jeder Umzug kostet Geld. Wohin sollen sie denn auch ziehen, wenn ihnen Freiheit und Selbstbestimmung wichtig sind und ihnen das kein wuchernder Beitrag in einer Seniorenresidenz geben kann? Was, wenn sie mit 82 Jahren noch fahrtauglich sind, gerne zum Yoga fahren, zu Sportgruppen oder in Restaurants essen möchten – aber in ihrem Quartier nie einen Parkplatz finden können?Die Bushaltestelle nicht um’s Eck. Die Straßen im Sommer für einen Spaziergang dorthin zu heiß. Die Familie zu weit weg.
Die Idee der Caring City
Die Idee der Caring City setzt auf Zwischenmenschliches bei der Bewältigung von urbanen und soziokulturell-demografischen Problemstellungen. Mit Fürsorge stellt dieses Modell die Bedürfnisse der Bewohner*innen in den Mittelpunkt und macht die Stadt zu einem Ort, an dem es den Menschen gut geht. Eine fürsorgliche Stadt legt ein besonderes Augenmerk auf zwischenmenschliche Beziehungen und die soziale Nähe zueinander. Auf eine Community, die sich gemeinsam kümmert.
Weg von enger, grauer Bebauung, breiten Straßen und versiegelten Böden, überteuerten Mieten, dem Alleinsein und der sozialen Isolation, durch gegenseitiges Hilfe?
Eine Stadt, die sich um ihre Einwohner*innen kümmert, macht nach Juliet Davis folgendes aus:
1
Die Konzentration auf die Bedürfnisse der Bewohner:innen
2
Der wechselseitige Charakter: Menschen kümmern sich um andere Menschen oder Dinge und erhalten dafür zu einem anderen Zeitpunkt etwas dafür zurück.
3
Der dynamische Charakter: Fürsorge ist niemals abgeschlossen, vielmehr handelt es sich dabei um einen Prozess, der stets von neuem beginnt.
4
Die Orientierung in Richtung Zukunft, angetrieben von realen und gewünschten Zielen.
Ziel dieser Architektur ist es, die Lebensqualität der Bewohner*innen zu steigern; eine individuelle Herausforderung für jede Stadt und abhängig von den Menschen und ihrer Definition von Lebensqualität.
Der Bürgerdialog der Bundesregierung mit dem dokumentierten, interaktiven Bericht Gut leben in Deutschland zeigt, auf welche Indikatoren es ankommen könnte.
Welche konkreten Handlungsoptionen sich aus diesen Lebensqualität-Indikatoren für das Gestalten der Städte ableiten lässt, beschreibt Oona Horx Strathern in ihrem HomeReport 2023:
„So braucht es einen guten Zugang zu den öffentlichen Verkehrsmitteln, viele Radwege und emissionsfreie Busse, um eine Stadt mobiler, gleichzeitig grüner zu machen und somit der Caring City näher zu kommen. Kurze Wege und somit mehr Freizeit verspricht die 15-Minuten-Stadt, bei der wichtige Einrichtungen in jedem Stadtviertel vertreten sind – etwa Kitas, Supermärkte, Arztpraxen oder Restaurants. Öffentliche Grünplätze helfen, das Bedürfnis nach Naturnähe zu erfüllen und gleichzeitig das gesellschaftliche Miteinander ganz im Sinne der Caring City zu fördern.
Wichtig sind dabei nicht nur enge soziale Beziehungen, sondern auch vergleichsweise schwache, aber herzliche Bindungen: die zu den Nachbar:innnen, zu den netten Verkäufer:innen im Blumenladen oder den Kellner:innen im Lieblingsrestaurant. Denn durch die kleinen Begegnungen des Alltags, einen Gruß, ein Lächeln oder ein kurzer Plausch entsteht ein Gefühl von Zugehörigkeit, welches in Caring Cities großgeschrieben wird. Wo Menschen eng zusammenleben und sich häufig begegnen, entstehen im besten Fall sogenannte Caring Communities, soziale Netzwerke, in denen sich Menschen gegenseitig im Alltag unterstützen.
Darüber hinaus haben die Bewohner:innen einer Caring City die Möglichkeit, die eigenen Ideen mit einzubringen und die Stadt selbst aktiv mitzugestalten. Als Beispiel dafür nennt Horx-Strathern sogenannte Parklets in einer Caring City. Hier entstehen an Straßenrändern auf ehemaligen Parkplätzen kleine Inseln, die zum Verweilen einladen. Und nicht zuletzt sollte sich Horx-Strathern zufolge eine fürsorgliche Stadt um Strategien gegen den Klimawandel bemühen, zum Beispiel mit mehr Pflanzen in der Stadt, mit Baumgruben nach dem Schwammstadt-Konzept hellen Straßenbelägen, die Sonne reflektieren statt zu absorbieren, um das größte Potenzial einer Caring City herauszuholen.“, fasst es zukunftswaende.de zusammen.
Zoom In:
Womit müssen wir heute schon anfangen?
15 Jahre, bis zum Ruhestand der Babyboomer, muss nicht gewartet werden. Es gibt genügend Herausforderungen in der Stadt, in den Quartieren, im sozialen Miteinander, der Stadtmobilität, der Biodiversität, dem Einzelhandel und den Arbeitsplätzen vor Ort.
Wir müssen jetzt Prozesse fördern, die das gemeinschaftliche Verändern anregen. Von der Politik unterstützt, kann aus einem darüber Nachdenken, ein Machen werden. Was, wenn es eine neue Form der Stadtplanung braucht? Eine, die auf Partizipation und Fürsorge fußt, damit resiliente Quartiere entstehen können, die sich leicht im Wandel mitformen können:
Ein Szenario: Resilientes Quartier durch Nachbarschafts-Reallabor für's Zukunftswohnen
Stadtplanung kann in Zukunft nur kooperativ und vernetzt erfolgreich sein. Keine neue Erkenntnis. Aber die Prozesse, die wir brauchen, sind es.
Idealerweise besinnen wir uns auf das Dorf als soziale Bezugsgröße und verbinden diese mit Orten der Begegnung und des Dialogs für Future Designing. Hier können innovative Prozesse zu wirklich kreativen Lösungen führen. Und dabei nehmen wir alle mit:
In Zeiten von Klimawandel und demografischer Veränderung gibt es keine einfachen Antworten. Also setzen wir bei den Menschen und ihrem Lebensalltag an. Treten wir in den praktischen Dialog mit Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit, um nicht nur zusammen zu denken, sondern auch zusammen zu machen.
Stadt hat die Verantwortung, sich um Daseinsvorsorge und Klimafragen zu kümmern. Das geht in Zukunft nur, wenn alle mitmachen. Politik und Verwaltung können Prozesse initiieren, die das Future Designing in überschaubaren Stadtteilen ermöglichen. Miteinander gelingen so neue Wege für Mobilität, für Nachbarschaften, für das Gemeinwohl, für das Kleinklima.
Wenn es diesen Ort für die Mediation der Probleme gibt, dann finden sich Lösungen für Sharing-Modelle, für die Wohnungsfrage der Generationen, für neue soziale Angebote, die Biodiversität und die Schwammstadt. Dann haben wir lauter kleine authentische Orte, die zusammen Stadt machen.
Eine kleine Welt in einer großen, eine große Welt in einer kleinen, eine Stadt wie ein Haus, ein Haus wie eine Stadt, ein Heim für Kinder - das zu schaffen war jedenfalls meine Absicht
Dieses Zitat von Leon Battista Alberti passt auch in unsere Zeit. Vielleicht sogar besonders. Weil das globale Geschehen mit jedem kleinen Schritt nachhaltig verändert werden kann.
Autorinnen: Kristina Oldenburg, Anne Cavalier
Weitere spannende Funde:
* FutureArchitecture
* Diese Hauptstädte werden jünger, diese vergreisen
* Schrumpfende Städte neu beleben
* Die Babyboomer gehen in Rente – Was das für die Kommunen bedeutet
* AGING SMART
* Die Stadtflucht
* Stadtlabor
Quellen im Text verlinkt.
Titelbild via UNSPLASH von HI! ESTUDIO
Bild „verknoteter Arm“ via UNSPLASH von Warren Umoh
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