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Verbale Power in der Beteiligung: Geschichten erzählen

Den Atem anhaltend, sitzt sie gebannt vor ihrem Laptop auf der Suche nach dem nächsten Artikel, der ihr Wissen zu dem Thema erweitert, das sie schon eine ganze Zeit lang interessiert. Ihre schnellen Finger tippen Suchbegriffe in die digitale Leiste der unendlichen Möglichkeiten, in der Hoffnung, dass sie das Rätsel des Geschichtenerzählens entschlüsseln kann. Mit starrenden Augen lässt das blaue Bildschirmlicht ihre Pupillen klein werden, ihren Kopf müde. TED Talks, Podcasts und Literatur eilen ihr in dem Moment der inneren Aufgabe zur Hilfe und lassen sie eintauchen in die Welt der Narrative…

Na, haben wir Dich mit unserem narrativen Einstieg gecatcht? 
Natürlich haben wir das. Und weißt Du auch, warum?

Weil der Mensch, so schreibt der britische Autor Graham Swift, das Geschichten erzählende Tier ist.

Bei aller Individualität, bei allen Unterscheidungen und Einzigartigkeiten unserer Spezies – ist das Erzählen uns allen gleich. Es ist eine Fähigkeit, die jede*r von uns besitzt, nach der sich jede*r von uns sehnt. Unabhängig von Wohnort, Religion oder Kultur – wir lieben es, Geschichten zu erzählen und zu hören.
Schon im Kindesalter können wir das Buch vom Treiben auf dem Bauernhof nicht oft genug vorgelesen bekommen. Auch nach mehrmaligem Hören fiebern wir mit den Protagonisten mit. Es könnte ja dennoch sein, dass das Ende dieses Mal anders ausgeht.
Laut Psychologie brauchen wir Geschichten für unsere geistige Entwicklung. Unser gesamtes Leben nutzen wir sie, um uns zu identifizieren und in der großen Welt zu positionieren.

Durch Geschichten tauchen wir ins Spiel ein – ins Spiel mit der Realität. Wir nehmen Rollen ein, die uns mit Fantasie aus dem Alltag ausbrechen lassen. Obwohl wir wissen, dass die Vampirerzählung aus dem Fantasy Roman nicht der Realität entsprechen kann, öffnen wir uns anderen Möglichkeiten und lassen uns emotional mitreißen. Geschichten formen unsere eigene Identität.

Moderne Interpretationen wie Storytelling im Marketingkontext oder die Postingformate von Influencer*innen, bedienen sich den gewinnbringenden Eigenschaften großer Geschichten. Sachliche Fakten reichen in unserem reizüberflutenden Alltag nicht aus, um Highlights zu setzen, weshalb persönliche Geschichtenschnipsel zusammen mit jeder Menge Gefühl, starker Bildsprache, Cliffhanger unser inneres Kind laut jubeln lassen und sofort eine intensivere Verbindung zum beworbenen Produkt, Dienst oder Menschen entstehen lassen.

Buchempfehlung zum Thema

Eine starke Geschichte kann die Welt retten – oder sie zerstören. Sie kann Wahlen entscheiden, Menschenleben retten, aber auch Kriege auslösen und Ungerechtigkeit zementieren. Samira El Ouassil und Friedemann Karig verfolgen diese ambivalente Wirkungsmacht anhand wichtiger Narrative von der Antike bis zur Gegenwart. Und sie zeigen, welche Erzählungen uns heute gefährden und warum wir neue benötigen. Wie gelingt es, den Klimawandel so zu erzählen, dass er zum Handeln drängt? Aus welchen Überlegenheitsmythen entstehen Rassismus und Antisemitismus? Mit welchen Storys manipulierte Trump seine Anhänger, und weshalb verfangen die Lügen der Querdenker und Verschwörungsideologen? Was erzählen wir seit jeher über uns selbst ‒ als Deutsche, als Europäer, als Humanist*innen, über unsere Republik? Gibt es Alternativen dazu? Wie könnte eine wirkungsmächtige neuen Erzählung der Aufklärung aussehen?Geschichten sind ein maßgeblicher Teil unserer Sozialisation. Sie durchdringen Politik, Medien und Kultur, lehren uns, unterhalten uns, verführen uns, beeinflussen unsere Wirklichkeitswahrnehmung – vom griechischen Drama bis zur Netflix-Serie.

Die Grundlage: Unsere Sprache

Lera Boroditsky, Kognitionswissenschaftlerin und Professorin für Sprache und Kognition, sieht in jeder der auf unserem Planeten existierenden 7.000 Sprachen eine eigene Sinneswelt.
Sprache formt unsere Welt, unser Handeln und unsere Art zu Denken.

In ihrem TED Talk berichtet sie, dass eine Gruppe australischer Ureinwohner, das Volk der Kuuk Thaayorre, keine Worte für „links“ oder „rechts“ haben. Stattdessen benutzen sie die Himmelsrichtungen. Sie wirft die Frage auf, ob diese Art der Ortsangabe nicht auch bedingen könnte, dass die Orientierungsfähigkeit mancher Völker besser ist, als die anderer.

Sprachen, die Worte für Zahlen bereithalten, ermöglichen ihrer*m Nutzer*in den Einstieg in die Mathematik, der anderen versagt bleibt.

Artikel! Ein weiteres Beispiel für die Macht der Sprache, laut Boroditsky. Im Deutschen ist die „Brücke“ grammatikalisch weiblich. Im Spanischen ist die Brücke grammatikalisch männlich. Lera Boroditskys Untersuchungen ergaben, dass wenn man Deutsch – und Spanisch Sprechende bittet, eine Brücke zu beschreiben:

Die Deutsch Sprechenden dazu neigen, der Brücke Adjektive, wie „schön“ und „elegant“ zuzuschreiben und damit stereotyp feminine Worte nutzen

 

während

Spanisch sprechende eher „stark“ und „lang“ also stereotyp maskuline Worte nutzen

Sprache hat also großen Einfluss und ist ein facettenreiches Mittel, um Geschichten zu erzählen, Perspektiven zu öffnen und  Ereignisse zum Leben zu erwecken. Die Nutzung unserer Sprachvielfalt zum Erzählen von Geschichten wurde uns allen in die Wiege gelegt. Die Botschaft, die wir mit Gesprochenem übermitteln wollen, hängt jedoch davon ab mit welcher Denkweise wir sie erzählen. 

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Chance für Beteiligungsformate

Was, wenn wir die Kraft der Narrative nutzen, um Beteiligung zu etwas zu machen, mit dem sich die Akteure identifizieren können? Wenn sie durch das Hineinschlüpfen in Rollen mitfiebern und emotionale Nähe zur Herausforderung aufbauen können? Wenn wir das aktive Zuhören bei anderen möglicherweise konträren Perspektiven durch den narrativen Charakter sicherstellen und echtes Interesse wecken, dass die Identifikation mit dem Beteiligungsgrund fördert?

Beim Durchwühlen unserer Methodenkiste, gefüllt mit Konzepten aus Psychologie und Kreativität, sind uns einige Methoden in die Hände gefallen, die sich super für narrative Beteiligung eignen würden:

Wir sind die Regisseure und Regisseurinnen unseres Lebens. Hier setzt das Psychodrama als kreatives Therapie- und Beratungskonzept an. Die Geschichte des Lebens schreiben wir selbst. Mental können wir neue Kapitel aufschlagen und im „als ob – Modus“ neue Szenen aus unterschiedlichen Perspektiven spielen. Wir entscheiden, wie die Geschichte weitergeht und lernen sie zu einer Lieblings- oder Erfolgsstory zu machen.

Menschenzentriertes Lösen: Lassen wir uns von der nutzerzentrierten Design Methode „Design Thinking“ inspirieren, würden wir Akteuer*innen in der Beteiligungsmethodik bitten, narrativ die Perspektive zu wechseln. 

Im Marketing wird bei dieser Kreativitätstechnik immer aus der Sicht des Nutzers gedacht. Geschichten mit Meinungen, Erfahrungen und Perspektiven sind fester Bestandteil der Methode.

Mehr zum Design Thinking

Von Walt Disney für seine Walt Disney Kreationen wie Donald Duck oder Micky Mouse, als er Denkblockaden hatte: Auch hier bilden der Perspektivwechsel und das Kreieren von Geschichten das Zentrum. Teilnehmer*innen schlüpfen in drei verschiedene Rollen: Träumer*in, Realist*in, Kritiker*in.

So entwickelt der*die Träumer*in Geschichten und Ideen ohne sie auf Realisierbarkeit zu entwickeln. Alles ist möglich und erlaubt. Wohingegen der*die Realist*in den pragmatischen Teil übernimmt, Ressourcen plant und übernimmt den Kopf der Geschichtenerzählung.

Mehr zur Walt Disney Methode.

Einen anderen Hut aufsetzen: Edward de Bono erweiterte die Walt Disney Methode um weitere Rollen, in die die Gruppenteilnehmer*innen schlüpfen.

6 Hüte – Denkhüte, mit unterschiedlichen Farben und unterschiedlich vorgegebenen Perspektiven. Der weiße Hut beispielsweise soll Ausgangspunkt für Ideen & Geschichten werden, die neutral und analytisch sind. Der Erzähler dieser Narrative beschäftigt sich mit Fakten, Zahlen und Daten.

Mehr zur De Bono Hüte Methode.

Geschichten sind ein mächtiges Mittel. Wir können garnicht anders, als uns aufgrund von Situationen eine Narration zu überlegen. Wir versuchen stets Sinn herzustellen, indem wir uns Geschichten ausdenken – so will es unser Gehirn, sagt Germanist Michael Müller vom Institut für angewandte Narrationsforschung von der Hochschule der Medien Stuttgart.
Wenn wir jemanden mit einer Wunde auf der Straße sehen, dann können wir nicht anders als Verbindungen zu schaffen und uns zu überlegen, ob der Grund für diese Verletzung eine Prügelei ist oder ob diese Person überfallen wurde, ob sie hingefallen ist und nun ins Krankenhaus gehen wird. Ob hoffentlich alles und es ihr bald wieder gut geht. Geschichten ohne Ende lassen uns im Ungewissen und ganz intuitiv selber zum Geschichtenschreiber werden.

… unzählige Zeilen, Videominuten und Interviews später blickt sie auf die eigenen Worte, die sie als Artikel niederschrieb. Ihre Stimmung heiter, ihre Finger müde. Und ihr Herz voller Freude, darüber, dass Geschichten zu erzählen eine Fähigkeit ist, die die Menschheit in der Vergangenheit ebenso wie in der Zukunft aus vielen Miseren retten könnte. 

Autorinnen: Kristina Oldenburg, Anne Cavalier

Quellen:
* Warum Menschen erzählen – Geschichten und Sprachverwendung, BR Podcast RADIOWISSEN, Klaus Uhrig, 10.1.2023: www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/warum-menschen-erzaehlen-geschichten-und-sprachverwendung/32559
* Narrativ und Storytelling – Moderne Erzähltheorien, BR Podcast RADIOWISSEN, Justina Schreiber, 18.5.2021: www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/narrativ-und-storytelling-moderne-erzaehltheorien/1826541
* How language shapes the way we think, Lera Boroditsky, 02.05.2018: www.youtube.com/watch?v=RKK7wGAYP6k
* Karrierebibel, Jochen Mai, 17.01.2021: karrierebibel.de/kreativitaetstechniken/
* Kreativitätstechniken.info, Dr. Marin Zec, 21.09.2022: kreativitätstechniken.info/kreativitaetsframeworks/design-thinking und kreativitätstechniken.info/ideen-generieren/walt-disney-methode und kreativitätstechniken.info/ideen-generieren/die-6-denkhute-von-de-bono/
* Deutschlandfunk Kultur, Sieglinde Geisel, 07.02.2022: www.deutschlandfunkkultur.de/die-wirklichkeit-erfinden-fluch-und-segen-des-narrativs-100.html

Titelbild via unsplash von S O C I A L . C U T

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